Die Bundestagswahl 2025 hat nicht nur Wahlprognosen erschüttert, sondern auch mein eigenes politisches Selbstverständnis hinterfragt. In mehreren Stadtteilen und Regionen, darunter Garath (Düsseldorf) und Teile von Gelsenkirchen, ist die AfD zur stärksten politischen Kraft geworden – Regionen, die mir bislang nicht aus erster Hand bekannt waren. Also habe ich beschlossen, das zu ändern.
Ich wollte verstehen – nicht urteilen. Also zog ich los, fuhr hin und streifte zu Fuß durch die Stadtzentren, auf Plätze, an Straßenecken, in Cafés und Einkaufsstraßen. Ich sprach mit jedem, der mir über den Weg lief. Die Gespräche waren durchweg freundlich. Ich wollte nichts anderes als zuhören – ohne Belehren, ohne Vorurteile und vor allem: auf Augenhöhe.
Insgesamt habe ich mittlerweile rund 150 bekennende AfD-Wähler*innen getroffen. Was mich besonders erstaunte: Keiner von ihnen zögerte, sich zu seiner politischen Haltung zu bekennen. Für viele war es inzwischen „normal“, sich zu äußern. Sie waren ausnahmslos alle sehr freundlich und sie sagten Dinge wie: „Die Ampel hat’s versaut.“, „Die Merkel-Regierung hat auch alles falsch gemacht.“, „Merz wird das nicht retten – die CDU wurde von der SPD ausgetrickst.“, „Deutschland steht am Abgrund.“, „Die Grenzen sind offen, hier ist nichts mehr sicher.“,
und das am häufigsten: „Man sieht doch, was los ist.“
Diese Aussagen klingen wie direkt entnommen aus dem Repertoire rechter Rhetorik – häufig in einem Atemzug aneinandergereiht, als müsse eine Behauptung die nächste stützen. Wenn ich nachfragte: „Geht es Ihnen heute schlechter als früher?“, war die Antwort fast immer: „Alles gut – aber die da oben tun alles, damit es uns bald richtig schlecht geht. Man sieht doch, was los ist.“
Das Bedrohungsgefühl ist also weniger eine erlebte Realität, sondern vielmehr ein Narrativ.
Klar, viele meiner Gesprächspartner kamen aus sozial angespannten Lebensverhältnissen und hatten einen eher niedrigen formalen Bildungsstand. Doch der Hauptantrieb war nicht soziale Not, sondern ein Gefühl des Bedeutungsverlustes: die Überzeugung, dass sich die Politik nicht mehr um sie kümmert – dass ‘andere’ bevorzugt werden, während sie selbst nicht mehr zählen. Das macht sie abholbar.
Sprachliche Normalisierung über alle Milieus hinweg
Was mich fast noch mehr erschütterte, war, wie diese Narrative auch in meinem eigenen Umfeld präsent sind. In wohlhabenden Düsseldorfer Stadtteilen wie Oberkassel, in Wirtschaftskreisen oder in Heimatvereinen wie den Düsseldorfer Jonges, begegnen mir immer wieder dieselben Narrative, wenn auch in einem etwas anderen Tonfall.
Aus Teilen der SPD höre ich: „Die Leute wählen AfD, weil es ihnen schlechter geht. Wir brauchen mehr Sozialpolitik.“ Eine Erklärung, die völlig im Widerspruch zu meinen Gesprächen steht. Niemand begründete seine Wahl mit persönlicher Not, sondern mit einer gefühlten, allgemeinen Bedrohung und Ohnmacht. Es ist, als ob jemand mit nur einem Hammer alle Probleme als Nägel betrachtet. Die SPD setzt auf Sozialpolitik als Lösung – aber das Problem mit der AfD lässt sich nicht mit diesem „Hammer“ beheben. Vielmehr ignoriert diese Sichtweise die eigentliche Frage: Es geht hier nicht vorrangig um sozialen Abstieg, sondern um das Gefühl, nicht mehr gehört und beachtet zu werden. Diese Perspektive entmündigt indirekt und treibt die Wähler zur AfD.
Auch aus der CDU und von Unternehmerverbänden höre ich ähnliche Muster: In der Kritik an der Regierung werden die AfD-Narrative in Dauerschleife wiederholt – von angeblichem Kontrollverlust über Wohlstandsverluste bis hin zur Forderung nach einem starken Staat, auf den „wir wieder stolz sein können“. Hier wird jedoch zu häufig eine vereinfachte Lösung für komplexe Probleme angeboten – als ob ein stärkerer Staat automatisch alle Herausforderungen lösen könnte. Die AfD als stärkste politische Kraft? Unvorstellbar! Dennoch wird häufig der Eindruck vermittelt, dass die Lösungen in radikalen Veränderungen zu finden sind, anstatt in einer konstruktiven Weiterentwicklung der bestehenden Strukturen.
So unterschiedlich die Milieus, so ähnlich die Erklärungen. Und in allen schwingt mit: Die Demokratie versagt – vielleicht hilft nur noch ein starker Staat.
Es ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – und eine gefährliche Illusion.
Deutschland steht nicht am Abgrund. Im Gegenteil: Es steht am Beginn eines neuen Kapitels – eines Kapitels der Erneuerung und des Aufbruchs. Wir haben eine robuste Wirtschaft, funktionierende Institutionen und eine demokratische Kultur, die trotz aller Herausforderungen lernfähig ist – beste Voraussetzungen also. Die aktuellen Schwierigkeiten sind real, aber sie sind auch demokratisch bewältigbar. Es braucht keinen Umsturz – es braucht den Mut zur Gestaltung.
Unsere Demokratie lebt von der Beteiligung aller. Jeder von uns ist ein Teil des Ganzen, und die kommenden Jahre bieten uns die Chance, gemeinsam an einer positiven Zukunft zu arbeiten. Wer sich auf Konflikte konzentriert, schürt die Spaltung – wer sich aber auf Lösungen konzentriert, wird die Gesellschaft stärken.
Drei Erkenntnisse nehme ich aus diesen Gesprächen mit:
1. Narrative schlagen Realität: Es reicht nicht, die Fakten zu kennen – wir müssen verstehen, wie Menschen diese Fakten erzählen, verarbeiten und bewerten.
2. Demokratische Sprache muss zurückgewonnen werden: Auch in der Mitte. Wer nur noch von „Versagen“, „Abstieg“ und „Bedrohung“ spricht, zerstört das Vertrauen in das, was wir gemeinsam tragen.
3. Zuhören, sichtbar sein, widersprechen: Wir Demokraten müssen dahin gehen, wo das Vertrauen schwindet. Nicht, um zu überreden, sondern um präsent zu sein. Immer wieder. Überparteilich – alle Führungsebenen aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft sind hier gefragt.
Denn ich bin überzeugt: Nur wer spricht, kann zurückgewinnen.
Das wirkungsmächtigste Narrativ der AfD ist „Jeder sieht doch, was los ist“. Es spielt auf die weit verbreitete Dringlichkeit und Unsicherheit an, stellt die Situation als unumkehrbar und außer Kontrolle dar und fordert schnelle, radikale Maßnahmen. Dieses Narrativ polarisiert und setzt auf Angst, die den Einzelnen zur schnellen Reaktion zwingt. Denn wenn wir ständig von einem drohenden „Abgrund“ sprechen, ohne Lösungen anzubieten, treiben wir die Gesellschaft in einen Zustand der Ohnmacht und Resignation. Das ständige Betonen der „Bedrohung“ verstärkt das Gefühl der Unsicherheit und lässt viele glauben, dass nur ein radikaler Wandel helfen kann – ohne zu erkennen, dass es vielmehr eine Erneuerung der Demokratie braucht, die durch aktive Beteiligung und Verantwortungsübernahme gestaltet wird.
Ein Gegen-Narrativ könnte sein: „Angst lähmt – Handeln befreit.“ Es dreht den Fokus von der Ohnmacht der Angst hin zur Selbstwirksamkeit. Die wahre Lösung liegt nicht in der Flucht vor der Unsicherheit, sondern im aktiven Handeln, das uns die Kontrolle zurückgibt und die Zukunft gestaltet, ohne die Verantwortung bei „denen da oben“ zu suchen.
Es reicht nicht, die AfD zu bekämpfen. Wir müssen uns mit den Menschen auseinandersetzen, die sie wählen – ihre Ängste und Hoffnungen verstehen und die Narrative zurückerobern, die unsere Gesellschaft heute spalten.
PS: Meine Gespräche waren keine wissenschaftliche Erhebung, keine gestützte Umfrage. Aber sie waren echt. Direkt. Nah. Und sie liefern genug Hinweise, um fundierte qualitative Forschung zu rechtfertigen. Vielleicht ist das der nächste Schritt.