Leitthese: Demokratie braucht eine neue Art von Führung. Nicht effizient, sondern widersprüchlich. Nicht schnell, sondern resonanzfähig. Nicht nur im Amt, sondern in der Haltung jedes Bürgers. Nicht auf Konsens fixiert, sondern auf Zumutbarkeit.
Mensch ohne Schutz
Ich komme aus der Wirtschaft. Zahlreiche Interimsmandate auf oberster Führungsebene, davor Vorstand eines Maschinenbaukonzerns. Ich bin es gewohnt, mit Fakten zu führen – mit Bilanzen, Strategiepapieren, Maßnahmenkatalogen. Ich habe Vorträge gehalten, Panels bestritten, Interviews gegeben – mit klarer Rolle und vor allem der Legitimation meiner Funktion.
Dann stand ich das erste Mal in einer politischen Arena. Ein Bürgerdialog, 200 Menschen, keine Bühne, keine Trennung. Und plötzlich war ich nackt. Nicht körperlich – aber ohne Zahlen, ohne Titel, gefühlt ohne Schutz. Nur ich, die Gesichter vor mir, Ihre Fragen. Keine Hierarchie, keine Unternehmensstruktur. Nur unmittelbare Nähe.
In diesem Moment wurde mir klar: Keine Excel-Tabelle, kein Businessplan, keine Strategievorlage bereiten dich auf diese Form von echter, ungefilterter Begegnung vor. Eine Begegnung, die Demokratie von dir verlangt. Eine Begegnung, die kein Schutzschild duldet. Und vielleicht ist genau das der radikale Unterschied: In der Wirtschaft schützt dich deine Rolle – in der Demokratie schützt dich nur deine Haltung.
Der Perspektivwechsel: Marktlogik vs. Demokratielogik
In der Wirtschaft steuern wir mit Effizienz, Tempo, klaren Zielen. Alles ist auf Optimierung ausgerichtet: schneller, billiger, besser. Erfolg misst sich in Quartalszahlen und Shareholder Value.
In der Demokratie dagegen steuern wir mit Aushandlung. Mit Pluralität, Langsamkeit, Kompromissen. Ich kam in die Politik mit dem Glauben, Prozesse beschleunigen zu können. Heute weiß ich: Die Debatte ist die Lösung. Die Reibung ist der Fortschritt.
Adorno hat betont, dass Demokratie nicht einfach eine gegebene Ordnung sei, sondern ‚eine Haltung‘, die eingeübt und von allen gelebt werden müsse. Also kein Zustand, sondern ein Prozess.
Und Fromm hat gezeigt: Moderne Demokratien funktionieren nur, wenn Menschen die innere Reife haben, Freiheit auszuhalten – sonst fliehen sie in Autoritarismus.
Doch in der heutigen Realität – mit Populismus, digitaler Polarisierung und schwindendem Vertrauen – ist selbst diese Reibung bedroht. Viele sehnen sich nach Klarheit und schnellen einfachen Lösungen: „Man müsst ja einfach nur …“. Genau hier liegt die Herausforderung: Demokratie braucht Führung, die Resonanz schafft und Widerspruch aushält. Und sie beginnt nicht bei Politikern – sondern bei uns.
Sehen statt Urteilen
Wie in meiner Fotografie geht es auch in der demokratischen Gesellschaft darum, den Menschen wirklich zu sehen: sein Wesen, seine Beweggründe, seine Ängste und Wünsche.
Ich sprach bewusst mit bekennenden AfD-Wählern – nicht um zu verharmlosen, sondern um zu verstehen. Um daraus Haltung zu entwickeln: keine naive, keine anbiedernde, sondern eine reflektierte, klare demokratische Haltung.
Dieses Zuhören war eine Zumutung – aber eine notwendige. Denn Demokratie verlangt nicht nur Empörung über Populismus, sondern zuerst die Bereitschaft, andere überhaupt auszuhalten. Wir müssen begreifen, warum Menschen sich abwenden. Und dann fragen: Was ist unsere Verantwortung in dieser Entfremdung – nicht nur die des Politikers, sondern die jedes Demokraten.
Michel Friedman brachte es jüngst auf den Punkt: „Die Mehrheit der Gesellschaft empfindet die Entwicklungen offenbar nicht als alarmierend. Sonst müssten die Reaktionen der Demokraten ganz anders ausfallen. Das zeigt, wo das wirkliche Problem steckt: bei jenen, die sich als Demokraten bezeichnen, aber keineswegs mit großer Leidenschaft für diese Demokratie eintreten.
Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie lebt nicht allein von Institutionen, sondern von Haltung, von täglichem Mitwirken. Die Bedrohung wächst nicht nur am Rand, sondern auch dort, wo Menschen in der Mitte beginnen, die Demokratie als etwas Äußeres zu betrachten. Wo man lieber auf die da oben zeigt, statt bei sich selbst anzufangen.
Vielleicht ist das die eigentliche Bewährungsprobe: Nicht ob wir empört genug sind über die Extreme – sondern ob wir selbst genug Leidenschaft entwickeln für das, was wir schützen wollen.
Wendepunkt: Wenig Gegenliebe
Mein Einstieg in die Kommunalpolitik begann vor 5 Jahren bei Volt – jung, europäisch, idealistisch. Viel Begeisterung, aber auch unreife Strukturen. Nach Konflikten mit der Parteispitze verließ ich Volt – und war sechs Monate parteilos: sichtbar, aber ohne Rückhalt.
Ich trat in die SPD ein, weil ich weiter Verantwortung übernehmen wollte. Doch als Seiteneinsteiger ohne Parteikarriere, mit dem Profil eines Restrukturierers, blieb ich ein Fremdkörper. Zwar traf ich auf engagierte Mitstreiter, insbesondere in meiner Fraktion – doch insgesamt auch auf einen Apparat, der sich mehr mit sich selbst beschäftigte als inspirierte, wie bei anderen etablierten Parteien vermutlich auch.
Ich kam, um zu gestalten – nicht um zu überleben. Ich war bereit, meinen Kopf hinzuhalten, aber nicht, mich parteipolitisch zu verbiegen.
Und genau darin lag mein Aha-Moment: Demokratie braucht nicht nur im Großen und in der Breite eine neue Art von Führung – sondern auch in ihren Strukturen. Denn auch Parteiarbeit ist Zumutung – aber genau darin liegt ihr demokratischer Sinn: Widerspruch aushalten, auch wenn es unbequem wird. Wenn Parteien Loyalität über Haltung stellen, verlieren sie jene, die Verantwortung übernehmen wollen.
Meine Entscheidung, nicht wieder zu kandidieren, war kein Rückzug – sondern ein Bekenntnis zur Demokratie. Denn wer sie stärken will, muss auch innerhalb der eigenen Reihen Widerspruch aushalten.
Alltagspopulismus
Ein scheinbar technisches Thema: Gaslaternen. In Düsseldorf Kulturgut – historisch, identitätsstiftend, zugleich energieineffizient, teuer, emissionsintensiv.
Die Debatte spaltete die Stadt. Eine Bürgerinitiative mobilisierte mit Halbwahrheiten, Ängsten und dem Feindbild: Die Politik will uns die Stadt wegnehmen.
Ich stimmte für die Umrüstung. Nicht, weil es bequem war – sondern weil die Argumente überzeugten. Für mich war es keine technische Frage, sondern eine demokratische Bewährungsprobe: Was wiegt mehr – Stimmung oder Argument?
Dabei habe ich gelernt: Wir sind als Politiker keine reinen Entscheider, sondern Resonanzkörper. Wir müssen zuhören – auch Stimmen, die uns nicht gefallen – und dürfen nicht einknicken vor denen, die am lautesten schreien.
Hier zeigt sich die eigentliche Zumutung der Demokratie: Sie verlangt, unpopuläre Entscheidungen zu tragen, wenn sie begründet sind. Sie zwingt uns, Widerspruch auszuhalten – auch dann, wenn er laut, emotional und verletzend ist. Demokratie schützt nicht vor Konflikten. Sie lebt von ihnen.
Darum sage ich: Führung in der Demokratie darf nicht bequem sein, sondern muss begründet sein. Nicht auf Zustimmung fixiert, sondern auf Verantwortung. Sie ist eine Zumutung – und genau deshalb eine Zumutung, die uns trägt.
Verantwortung und Führung im täglichen
Ein amerikanischer Verfassungsrichter, Louis Brandeis, brachte es auf den Punkt – später zitierte Barack Obama ihn, kürzlich auch der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom: „Das höchste Amt in einer Demokratie ist das des Bürgers.“
Nicht Mandat, nicht Amt, nicht Funktion. Sondern Haltung. Mitdenken. Mitwirken. Die Bereitschaft, Demokratie nicht nur zu konsumieren, sondern sie mitzugestalten – auch im Widerspruch.
In über 300 Gesprächen mit bekennenden AfD-Wählern habe ich erlebt: Die wenigsten sind ideologisch gefestigt. Viele sind enttäuscht, verunsichert, resigniert. Für uns – die bürgerliche Mitte, die sich gern für Stabilität und Gemeinsinn verantwortlich fühlt – stellt sich die Frage: Was haben wir übersehen? Was zugelassen?
Viele halten inzwischen selbst CDU oder FDP für „links“. Sie glauben an ein Systemversagen – und an die Alternativlosigkeit des Protests. Genau das zeigt, wie tief der Vertrauensverlust reicht und wie anspruchsvoll demokratische Führung heute sein muss. Nicht nur auf dem Podium, sondern im Alltag. Nicht nur durch Politiker, sondern durch uns alle – durch Bürgerinnen und Bürger, die zuhören, einordnen, Widerspruch aushalten.
Wer Demokratie stärken will, darf Menschen nicht in Lager sortieren – sondern muss in Resonanz gehen.
Denn: Demokratie lebt nicht davon, dass alle einer Meinung sind. Sie lebt davon, dass sich Menschen mit Haltung begegnen – gerade im Dissens.
Darum braucht es Bürger, die führen – nicht durch Macht oder Besserwissen, sondern durch Beispiel. Durch Klarheit. Durch die Bereitschaft, unbequeme Fragen offen zu halten, statt sie zuzudecken. Führung beginnt dort, wo wir aufhören, recht haben zu wollen – und anfangen, Verantwortung zu übernehmen.
Stammtisch vs. Social Media: Vom Lokalen zur globalen Arena
Früher stritten wir am Stammtisch. Laut, manchmal derb, aber direkt. Man sah sich in die Augen – und musste sich aushalten.
Heute haben Social Media diese Rolle übernommen. Aber ohne Blickkontakt. Ohne Risiko. Ohne Korrektur. Gerade die Zumutung des Aushaltens, die am Stammtisch selbstverständlich war, geht im digitalen Raum verloren – und damit ein Stück demokratische Kultur. Dafür wirkt Reichweite, Tempo, Radikalisierung. Vereinfachung wird belohnt. Empörung verstärkt sich selbst. Aus Meinung wird Manipulation. Aus Frust Wut. Aus Wut Mobilisierung.
Social Media ist ambivalent: Es kann Partizipation und Vielfalt fördern – zugleich aber auch Spaltung, Desinformation und Manipulation. Entscheidend ist: Jeder kann Sender und Empfänger sein. Das dezentralisiert Macht über Informationen – und stellt uns vor neue Herausforderungen: Medienkompetenz, Regulierung, Schutz der demokratischen Kultur.
Demokratie beginnt heute nicht mehr nur im Wahllokal. Sie beginnt in unseren Kommentaren. In unserer Sprache. In unserem Ton.
Die 4-Fragen-Probe: Haltung statt Lautstärke
Ich habe zwei Bilder im Kopf:
Auf dem ersten der „Sofort-Kommentator“. Laut, schnell, empört. Zu allem eine Meinung, keine Zweifel. Zustimmung oder Ablehnung – oft selbstgefällig.
Auf dem zweiten der reflektierte Bürger. Fragend. Zuhörend. Klar, aber nicht laut. Standfest, aber nicht stur. Er kennt den Wert von Demut.
Diesen beiden Bildern begegne ich täglich. Und sie stellen mir die Frage: Will ich senden – oder verstehen? Gewinnen – oder verbinden?
Auch die rotarische 4-Fragen-Probe* ist für mich ein Brennglas: Sie stoppt Impulsivität, fordert Selbstreflexion, verlangt Verantwortung statt Gefallenwollen – und stärkt Resonanz statt Rechthaben. Sie hängt neben meinem Schreibtisch und erinnert mich stets daran, nicht in Emotionen und Parolen zu versinken, sondern den Ton zu finden, der Demokratie wirklich dient.
Die leise Revolution des Zuhörens
Zuhören ist ein Akt politischer Reife. Doch oft verwechseln wir es mit dem Warten, bis wir wieder reden dürfen. Echtes Zuhören heißt: bereit sein, nicht recht zu haben. Offen dafür, wie jemand anderes die Welt sieht – ohne sofort in Verteidigung zu gehen.
Ich habe viele Gespräche mit Menschen geführt, die sich vom politischen System abgewendet haben. Nicht, weil sie pauschal extrem sind – sondern weil sie sich nicht gehört fühlen. Weil niemand ihnen erklärt hat, dass Politik kein Service ist, sondern ein kollektiver Lernprozess. Demokratie bedeutet nicht: „Ich bekomme, was ich will“ – sondern: „Ich bin Teil von etwas Größerem.“
Diese Gespräche waren nie bequem, aber wertvoll. Sie haben mir gezeigt: Veränderung beginnt selten mit einem großen Aufschlag, sondern mit einem echten Moment der Verbindung. Mit einem Satz, der einlädt statt spaltet. Mit einer Geste, die berührt statt entlarvt.
Zuhören kann eine Form von Führung sein – eine stille, aber tragfähige. Echtes Zuhören ist eine Zumutung – weil es uns zwingt, eigene Sicherheiten loszulassen. Aber genau das macht Demokratie lebendig. Vielleicht ist das die revolutionärste Idee unserer Zeit: Dass das leise Verstehen manchmal lauter spricht als das laute Rechthaben – fast wie eine Umarmung, die keine Worte braucht.
Demokratie als Zumutung – und Einladung
Der führende Verfassungsrechtler Christoph Möllers (Humbold-Universität) frägt: Leben wir in einer Demokratie aus guten Gründen oder nur aus Gewohnheit? Sind wir enttäuscht, weil sie versagt – oder weil wir uns nie ehrlich gefragt haben, was wir von ihr erwarten dürfen? Diese Fragen verweisen zurück auf uns: Demokratie lebt nicht nur von Institutionen, sondern von unserer Haltung.
Ich hatte lange geglaubt, Klarheit und Tempo seien das höchste Gut – wie in der Wirtschaft. Heute weiß ich: Demokratie verlangt anderes. Nicht Schnelligkeit, sondern Beziehung. Nicht Effizienz, sondern Resonanz.
Was wie Stillstand aussieht, ist in Wahrheit verdichtete Arbeit: Hunderte Gespräche, Abstimmungen, Korrekturschleifen. Für jemanden wie mich war das schwer zu akzeptieren. Bis ich verstand: Reibung ist kein Fehler – sie ist das System. In ihr liegt der Fortschritt.
Wer diese Komplexität nicht aushält, öffnet die Tür für einfache Antworten. Führung in der Demokratie heißt nicht: durchsetzen. Sie heißt: zuhören, aushalten, widersprechen – und in Verbindung bleiben. Denn eine Demokratie, die nicht reibt, hat aufgehört zu atmen.
Persönliches Fazit: Demokratie ist ein Ort der Zumutung – und der Zumutbarkeit.
Sie verlangt mehr als Zustimmung: Sie verlangt Auseinandersetzung, Haltung, Verantwortungsbereitschaft – jeden Tag, von jedem von uns.
Diese Zumutung richtet sich an alle. Politiker müssen Entscheidungen treffen, die nicht nur populär sind, sondern verantwortbar – die Zumutung besteht darin, Mehrheiten nicht einfach zu bedienen, sondern unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Bürgerinnen und Bürger müssen mehr leisten, als Meinungen zu äußern. Die Zumutung liegt darin, Verantwortung nicht nach oben abzuschieben, sondern selbst Maß zu halten: nicht alles schwarz zu sehen und nicht überall den Abgrund zu erkennen, nur weil die eigene Wahrnehmung gerade dorthin fällt. Und auch Institutionen und Parteien sind gefordert. Ihre Zumutung besteht darin, nicht nur Verfahren zu verwalten, sondern Resonanz zu ermöglichen – Räume zu schaffen, in denen Menschen sich gesehen fühlen, auch im Dissens.
Demokratie braucht Menschen, die führen – nicht durch Amt oder Titel, sondern durch Haltung. Resonanzfähig, widersprüchlich, zumutbar. Nicht über andere hinweg – sondern mit ihnen. Führung in der Demokratie beginnt nicht bei „denen da oben“ – sie beginnt bei uns.
Und Demokratie bleibt nur lebendig, wenn wir ihre Zumutungen selbst annehmen.
Und Ihr Aha-Moment?
Wo erleben Sie, dass Demokratie mehr von Ihnen verlangt als nur eine gefestigte Meinung?
Wo spürst Du, dass demokratische Führung nicht nur Amt bedeutet, sondern eigene Haltung?
Und wo halten Sie Widerspruch aus – und bleiben trotzdem verbunden, vielleicht sogar in jener Umarmung, die Demokratie meint?
Vielleicht liegt genau darin unsere größte Aufgabe: Demokratie nicht nur als System zu verstehen – sondern als Raum.
Ein Raum für Reibung. Für Vertrauen. Für Entwicklung. Für – vielleicht – ein neues Wir.
Gerade mit Blick auf die Entwicklungen in den USA mag meine Leitthese schwer einlösbar erscheinen. Doch genau deshalb halte ich an ihr fest – als meiner tiefsten Überzeugung und als Einladung, sie gemeinsam zu tragen.
Ich Danke allen in besonderem Masse, die bis hier her gelesen Haben!
Mark Schenk
30.9.2025
* Die rotarische 4-Fragen-Probe:
1. Ist es wahr?
2. Ist es fair gegenüber allen Beteiligten?
3. Wird es Freundschaft und guten Willen fördern?
4. Wird es dem Wohl aller beteiligten dienen?